Eigentlich hatte ich ja gehofft dass Philipp, ein alter Studienfreund aus Wittener Zeiten, mich die nächsten drei Tage begleiten würde, denn was jetzt kommt ist eigentlich sein Traum: Die Kurische Nehrung. Ich erinnere mich noch gut wie wir vor acht, neun Jahren in seiner Wohnung sitzen, Graf Luckners „Seeteufel“ lesen, über den Sinn des Lebens philosophieren (beliebter Volkssport an der UW/H) und er mir von seinem selbst restaurierten Jeep erzählt und davon, dass er irgendwann einmal die Kurische Nehrung befahren möchte. Ich weiß zu dem Zeitpunkt noch nicht mal wo die liegt; Philipp holt einen alten Atlas raus und schwärmt von kilometerlangen Wanderdünen mit knorrigen Kiefernpflanzungen und urstämmiger Bevölkerung… Auch wenn ich Witten 2001 frühzeitig verlassen habe – wir haben den Kontakt nie verloren. Ich schicke ihm also eine SMS – er ist gerade auf einem Venture Capital Forum. „Wo soll ich hinfliegen?“ kommt als Antwort. Cool. Ich freue mich schon auf ein Wiedersehen – aber leider bekommt er keinen Urlaub. Mein „Zeit hat man nicht, Zeit muss man sich nehmen“ hilft da auch nicht weiter. Schade. Philipp, ich hoffe Du schaffst es irgendwann hierher – es ist noch wunderbarer als Du es Dir vorstellen kannst. Habe Dir eine Karte geschickt ;-)
Da ich am Sonntag erst wieder lange geschlafen, noch länger geduscht und ausgiebig gefrühstückt habe lege ich mal wieder viel zu spät ab – gegen 15 Uhr, unter Segeln. Der Wind schläft auch ziemlich bald ein, es steht leichter Strom gegenan, und ich brauche zwei geschlagene Stunden um die kleine Insel südöstlich des Frachthafens zu passieren – stehe mit schlaff herabhängendem Gennaker geschlagene 30 Minuten unter einer Hochspannungsleitung, umgeben von kleinen Fischer- und Schlauchbooten, die mit hinterhergezogener Angel langsam an mir vorbeipaddeln… Um kurz vor 22 Uhr habe ich keine Lust mehr – Nida ist noch knappe 20 Meilen entfernt, ich schmeiße den Außenborder an und mache 20 Minuten später an der kleinen Stadtpier von Jouodkranté fest. Eine sehr gute Entscheidung, wie sich bald herausstellt – es ist total leer, ruhig und niedlich hier, eine lange Strandpromenade mit tollen Steinstatuen, eine alte Kogge als Restaurantschiff, und zwei hübsche Studentinnen aus Vilnius die hier einen etwas gelangweilten Strandurlaub verbringen und sich über Abwechslung freuen…
Am Montag lege ich bei auffrischendem Südost sehr früh ab und schaffe es bis Mittag nach Nida. Auch wenn ich eigentlich schon längst auf dem Rückweg nach Klaipeda und weiter nach Liepaja unterwegs sein sollte: Ich will zumindest einmal in die Wanderdünen springen, und ich muss noch mal zur russischen Grenze runter – habe da noch was vor ;-) Zuerst aber muss ich tanken, denn wenn der Wind so bleibt werde ich die knapp 30 Meilen nach Klaipeda wohl motoren müssen – so ungern ich so etwas tue. Der Taxifahrer will für die 2 km bis zur Tanke 30 Lietas. Hier ist halt alles voller deutscher Touristen, das versaut die Preise und die Gemüter. Ich miete mir ein Fahrrad (8 Lietas pro Stunde), schnalle meinen 30-Liter-Tank auf dem Gepäckträger fest und fahre erstmal zum Thomas Mann Haus, wo ich ein Exemplar seiner 1931 vor den Münchener Rotariern gehaltenen Rede erstehe. Mann schreibt (bzw. trägt vor):
Man möchte doch auch wieder einmal sein Scherflein beitragen zur Unterhaltung und Belehrung. (…) Ich habe an eine Landschaft gedacht, und zwar an die Landschaft, die mir in letzter Zeit besonders ans Herz gewachsen ist: die Kurische Nehrung. (…) Ich habe eine starke Sympathie für diese Landschaft. (…) Meine Worte können Ihnen keine Vorstellung von der eigenartigen Primitivität und dem großartigen Reiz des Landes geben. Ich möchte mich hier auf Wilhelm von Humboldt berufen, der dort war, und speziell von Nidden so erfüllt war, daß er erklärte, man müsse diese Gegend gesehen haben, wie man Italien oder Spanien gesehen haben müsse («wenn einem nicht ein Bild in der Seele fehlen soll»).
Ich kann ihm nur zustimmen – es ist wunderschön hier. Ich radele durch lichte Kiefernwälder und über durch die Dünenlandschaft führende Holzstege, trage mein Fahrrad lange Treppenwege hinauf und auf der anderen Seite wieder herunter und besuche die kleine Backsteinkirche von Nida, in der drei Musiker mit Piano, Geige und Klarinette gerade für das morgen geplante Konzert proben. Das Tor zum dahinterliegenden Friedhof ist überschrieben mit den Worten „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ – auf deutsch und litauisch, wie auch die alten, wunderschönen Holzkreuze aus dem 18. Jahrhundert deutsche Gravuren tragen.
Als ich gegen Abend mit 30 Litern Sprit zurück zum Schiff komme und mir in einem kleinen Restaurant eine Portion rohen Hering mit Kartoffeln und Quark gönne treffe ich Neal aus Neuseeland. Er ist seit 18 Jahren auf Reisen, arbeitet als Reisejournalist und überarbeitet gerade das Litauen-Kapitel des Lonely Planet. Er erzählt von seinen ausgedehnten Reisen durch Osteuropa, ich von Kaliningrad und Kate – und dass ich vor Sonnenuntergang noch mal an die Grenze müsse. Neal kommt mit.
Wir schmeißen den Außenborder an und geben Gas – es wird bereits dunkel. Ich hole meine Flaschenpost-Formulare raus und erkläre Neal worum es geht: Kate soll ihr Silberkettchen-Amulet zurückbekommen – vielleicht. Passt leider nicht in die sonst verwendeten Flens-Flaschen – aber eine mit Ducktape versiegelte Nescafé-Dose tut’s auch. Neal bittet den Finder seiner Flaschenpost, seiner Tochter in den USA eine Karte zu schicken, dann überqueren wir an Tonne 7 die Grenze, wagen uns ein paar Meter auf russische Hoheitsgewässer vor und werfen unsere beiden Flaschenposts (Flaschenposti? Was ist der Plural, bitte!?) in hohem Bogen über Bord – to Russia with love…
Als wir zurück sind beschließe ich Zeitplan mal wieder Zeitplan sein zu lassen und in Nida zu bleiben. Ich setze mich zu den gerade ihren Feierabend genießenden Serviererinnen von Cili-Pizza und lasse den Tag bei netten Flirts ausklingen. Am Morgen kommt Neal vorbei und segelt mit nach Klaipeda. Wir verbringen einen langen, sonnigen Tag auf der Nehrung und philosophieren über das Leben (Mehr und Jetzt!), über Kindheitsträume, Reisen und Abenteuerlust, über Liebe, guten Sex und die Art von Traumfrau, die immer genau dann aufzutauchen scheint wenn man eigentlich gerade weg und weiter will… Dann nimmt er den nächsten Bus nach Norden und ich mache mich an den Neubau meines Servoruders…