Es gibt Sachen, die man immer schon mal machen wollte. Ich meine nicht den großen Lebenstraum, den man ewig vor sich her schiebt, den Sechser im Lotto oder das „Ich bin ein Rockstar“-Syndrom. Es sind eher diese kleinen, fixen Ideen, die einen seit Jahren nicht loslassen, immer wieder aus irgendeiner Versenkung auftauchen, eine Versuchung beinhalten und vielleicht ein kleines, aber wirklich nur ein kleines, kalkulierbares Risiko – vielleicht macht gerade das den Kitzel aus, den man spürt, wenn sie einem den Nacken hochkriechen.
Dabei sind sie eigentlich ganz greifbar, wären relativ einfach umzusetzen und sind bei genauerem Hinsehen gar nicht so verrückt, wie man im ersten Moment annehmen mag. Aber sie sind meist etwas naiv und von einer Art kindlichen Neugier getrieben, so dass man sie meist mit einem leicht irritierten, nach innen gerichteten Lächeln über die eigene Unvernunft zur Seite wischt, noch bevor man sich ein solches Hinschauen und wirkliches Abwägen erlaubt – so, wie ein Vater seinen achtjährigen Sohn von einem noch nicht ganz zu Ende gebrachten Gedankenexperiment mit einem dahingeworfenen Halbsatz und so einem vernunftgesteuerten, erwachsenen Ausdruck in Augen und Stimme in die Realität zurückholt, ohne wirklich zugehört zu haben.
Wir sind auf Årø. Wer mein Buch gelesen hat, weiß, wie sehr mich diese Insel geprägt hat, wie viel sie mir auch heute noch bedeutet. Astrid Lindgren hätte sich kein schöneres Saltkrokan ausdenken können, kein besseres Bullerbü als Gerrit, Thies und ich damals zusammen mit Anna und Laura entdecken und erobern durften. Brummers Gaard ist wie der Hof von Michel, in Ingrids altem Kro könnte auch Pippi Langstrumpf wohnen, und Nils Holgersson – ach nein, das war ja nicht Astrid Lindgren – aber ihr wisst, was ich meine.
Fixe Ideen aus frühen Kindheitstagen schießen mir hier aus allen Himmelsrichtungen in den Kopf: Den weiß-rot-weißen Leuchtturm besteigen. Nochmal die Ponys hinter Barbaras Haus reiten, diesmal hoffentlich ohne schmerzende, dunkel-violette Pferdeküsse als Andenken. Oder das rostige Auto-Wrack, das im dichten Schilf der Viehweiden hinterm Hafen tief im Morast versunken ist erkunden und vielleicht sein verbogenes Lenkrad, den Schaltknauf oder das Typenschild erbeuten. Aber Mann ist ja kein Kind mehr.
Oder doch? „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ – die Leitfrage meines ersten Segelsommers, die sich quer durch „Raus ins Blaue!“ zieht und vor vier Jahren gewissermaßen den Beginn eines neuen Lebensabschnitts markierte, hat hier auf Årø ihren Ursprung – genauer: Auf dem Kalv. Zusammen mit Stefan, der sie bei unserem winterlichen Fußmarsch über die Insel beinahe beiläufig gestellt hatte, musste ich trotz einsetzendem Regen bis an dessen äußerste Spitze laufen, den langen Halbmond entlang, bis ich mit beiden Beinen im Wasser stand und wusste: Jetzt und hier. Raus ins Blaue. Ich gehe Segeln.
Das Kalv also. Ein steiniger, halbmondförmiger Blinddarmfortsatz, der weit in die offene See ragt, auf der Außenseite glatt und bogenförmig, nach innen ein durch seine flachen, sandigen Finger zergliedertes Noor umfassend, das er an seinem nördlichsten Ende fast wieder verschließt. Aber irgendwo zwischen Hauptinsel, Kalv und den winzigen, vorgelagerten Inseln Bastholm und Smaholm existiert eine schmale Rinne, durch die die Fischer mit ihren kleinen Tuckerkähnen das Noor befahren, um ihre Netze und Reusen auszubringen. Der Zweimeterlinie auf meiner Karte nach zu urteilen ist sie nicht breiter als 20 Meter – aber sie ist da. Genau wie diese fixe Idee vom Ankern im Noor.
Mona ist alles andere als begeistert. Sie sitzt zwanzig Zentimeter vor meinem neuen Plotter und ruft mir im Sekundentakt die kontinuierlich abnehmenden Tiefenangaben auf meiner Logge zu, während ich mich auf die Schattierungen des Wassers, den Wechsel von grau über blau und türkis zu hellgrün und auf meine Intuition verlasse. An manchen Stellen kann ich bis auf wenige Meter an den Strand kreuzen, bevor ich wende und einen neuen Anlauf nehme. Wenn es ein Schiff gibt, das auf engstem Raum gut kreuzen kann, dann ist es ein Folkeboot. Und wenn es ein Folkeboot gibt, das reinkommt wo andere steckenbleiben, dann ist es trotz Zuladung und höher gelegtem Wasserpass meine „kleine Brandgans“ Tadorna, deren Kiel schon so manchen Grund geküsst hat, ohne je ernsthaft Schaden zu nehmen – eine Tonne Gußeisen im Kiel, das Wissen um den sandigen Untergrund und nicht zuletzt mein kleiner Faryman verleihen Schiff und Schiffer eine fast stoische Gelassenheit.
Drei Stunden und eine Inselrunde später sind wir zurück. Das Kribbeln im Bauch, die hibbelige Vorfreude und das freudige Glucksen, als wir tatsächlich das Innere des Noors erreichen, sind einem zufriedenen, glücklichen Gemütszustand gewichen – was aber auch an den Risted Hotdogs liegen mag, die wir uns gerade beim Havnekiosken gegönnt haben. Ich fühle mich wie auf einer Jausestation in den Alpen, mit Almdudler und halbem Germknödel in der schon tief stehenden Abendsonne, zurück von einer herbstlichen Wanderung, die zwar nicht sonderlich anstrengend war, vom Gipfel aus aber einen atemberaubenden Ausblick über tiefliegende Wälder und Täler und dahinter aufragende Bergketten bot. Und genau so, wie man dort etwas verharren und ausruhen mag, um dann den lockeren Abstieg ins Tal anzutreten, entscheiden wir, heute den nördlichsten Punkt unseres Sommers erreicht zu haben: Årø rund.