Insel Naissar (Nachtrag)

Am Morgen werden wir vom Einlaufen eines Versorgungsschiffes geweckt, kurz darauf rumpeln wieder zwei dieser russischen dreiachsigen Militärlaster Baujahr 1950 über die alte Mole: an die 50 weiß gestrichene Fensterrahmen, Paletten voller Bier und Sahne, mehrere Zentner Weißkohl und säckeweise Zwiebeln werden vom Schiff auf die Ladeflächen gehievt. Es wirkt total surreal – die Behauptung des Hafenführers, die ehemalige Militärbasis Naissar sei unbewohnt scheint auf jeden Fall nicht mehr haltbar – Zeit den Dingen auf den Grund zu gehen. Im Hafengebäude gibt ein Inselmodell Auskunft über die Lage einer ehemaligen Seeminen-Fabrik, mehrere Flakstellungen und eine zu Soviet-Zeiten angeblich höchst geheime Raketenbasis – also los.

Am Ortsausgang von Lounaküla, das nur aus ein paar verfallenden Holzhäusern besteht fallen wir fast vom Glauben ab: Am Straßenrand steht auf einem kleinen Hügel ein festlich gedeckter Mittagstisch: weiße Tischdecke, Weintrauben, Wurst und Käse, aufgeschnittenes Schwarzbrot und frische Butter…!? Bei näherem Hinsehen entpuppt sich das Ganze als Plastik-Attrappe – trotzdem verrückt.

Dann kommen wir zur Inselkirche. Sie ist vollständig entkernt, komplett eingerüstet, davor liegen die morgens angelieferten Fenster, fertig zum Einbau. Die Gemeinde Naissar (?) scheint was vorzuhaben. Hinter der Kirche, mit Meerblick in Richtung Tallin, liegt der alte Friedhof. Verrostete Stahlkreuze aus dem frühen 19. Jahrhundert, wieder viele mit deutsch klingenden Namen, aber auch ein mit frischen Blumen geschmücktes Grab aus dem Jahr 2007. Und dann kommen wir der Sache langsam näher: Hinter einer Biegung steht eine riesige, neue Holzscheune, davor Bierbänke und ein großes Poster, das auf ein Festival hinweist: Wir haben gestern anscheinend Mozarts Requiem verpasst! Für heute Abend, 19.30 Uhr steht „Katkuaja Lood“ auf dem Programm…

Das Gelände der ehemaligen Minenfabrik befindet sich mitten im Wald und ist mit hohen Stacheldrahtzäunen, die alle Meter mit verrosteten Konservendosen behangen sind, abgesperrt. Auf krummen, moosbewachsenen Schmalspurschienen kommen wir an verfallenden Werftgebäuden, Reparaturwerkstätten und Lagerhallen vorbei, überall liegen rottende Holzkisten mit russischen Aufschriften, die beim Öffnen in sich zusammen- oder auseinanderfallen. Teilweise finden sich noch alte Zünder und Sprengkapseln, komplett mit russischen Wartungsheften voller Unterschriften und Stempel aus den 70er Jahren darin. Wir streunen stundenlang über das Gelände, ich fühle mich Kind – Pirateninsel, Schatzsuche, Neulandentdecker… Lange nicht mehr so viel Spaß gehabt. Erik macht sich auf den Rückweg, ich streune noch etwas weiter, versuche eine alte, immer noch gut geschmierte Hebeanlage wieder in Betrieb zu nehmen und sammle diverse Metallteile ein – wann bekommt man schon mal russische Seeminen-Sprengkapseln in die Hände? Komme zu meiner Verwunderung irgendwann deutlich nördlich des Hafens wieder an den Strand – zurück an Bord klingelt mein Handy, Erik hat sich ebenfalls verlaufen und sucht noch immer den Heimweg…

Als gegen 18 Uhr das kleine Passagierschiff aus Tallin kommt schließen wir uns einfach der Meute an. Auf russischen Lastern geht es zunächst zum „Hauptbahnhof“. Hier erwartet uns der einzige Mann, der Naissar ganzjährig bewohnt; er ist Hafenmeister, Leuchtturmwärter, Bahnhofsvorsteher, Zugführer, Schaffner – und ihm gehört der „Rähnipesa Saloon“. Der Inselzug fährt genau bis zum Eingang, und er vollzieht einen Rollenwechsel von Lokführer zu Barmann – dann geht es wieder auf die Laster und weiter zu besagter Scheune. Hier hat man aus den morgens angelieferten Weißkohl- und Zwiebelmassen inzwischen einen deftigen Eintopf vorbereitet. Wir erfahren dass „Katkuaja Lood“ soviel wie „Geschichten aus den Zeiten der Pest“ bedeutet – wir werden also ein estnisches Theaterstück zur Inselgeschichte sehen. Leider verstehen wir nicht viel – das einzige estnische Wort das ich bisher behalten konnte ist „Tervisex“ – Prost. Zwei Stunden Estnisch wird trotzdem nicht lang, wir bekommen eine wirklich gute, sehr moderne Inszenierung unbekannten Inhaltes geboten, die für uns vom Klang der Sprache, dem Bühnenbild und der Kreativität der jungen Schauspieltruppe lebt. Am Ende geht das riesige Scheunentor auf und die ganze Kompanie verlässt ohne Verbeugung und ohne Applaus über einen langen, in den Wald führenden Hochsteg singend die Bühne, verschwindet hinter einer Biegung und ward nicht mehr gesehen. Dann kommen die Laster zurück.
Wieder geht es zum Saloon: „The next train will come in 20 Minutes“ wird uns übersetzt – klar, genug Zeit um noch einige teure Bier zu verkaufen – der Mann versteht sein Geschäft ;-) Der Zug fährt wieder nur bis zum Hauptbahnhof – eine Strecke von knapp 10 Minuten –, dann holen uns die Laster, die uns zwischendurch überholt haben, wieder ab. Sehr raffiniert…

Naissar hat bestätigt, was ich eigentlich schon wusste: es sind die Kleinode, diese Orte die man so wohl nur durch irgendeinen Zufall und mit dem Boot erreicht, die den besonderen Reiz dieses Sommers ausmachen und nach denen ich suchen bzw die ich finden möchte. Trotzdem machen wir um zehn Uhr abends die Leinen los und treiben bei fast null Wind hinüber nach Tallin. Denn heute ist der 24. Juli – Papas 60. Geburtstag! Morgen früh werde ich Tadorna für drei Tage in Eriks Obhut belassen und übers Wochenende nach hause fliegen.