Auf dem Weg nach Kihnu

6.00 h morgens, auf dem Weg nach Kihnu

Pos N 57°30’ E 23°59’ Kurs N

Ich werde im Hafen immer wieder gefragt ob mir nicht langweilig wird, so allein auf See; ob ich nicht Angst habe; ob es nicht gefährlich ist alleine zu segeln, und warum ich das tue? Also, ich nehme Euch mal kurz mit in meine Gefühls- und Gedankenwelt und das Jetzt und Hier:

Es ist kurz vor sechs. Ich bin seit rund neun Stunden unterwegs, mit der untergehenden Sonne aus dem Rigaer Seekanal raus, direkt neben einem rund 200 Meter langen Ölfrachter, der sich mit 20 Knoten an mir vorbeischiebt, daneben der Pilot, der kurz hinter der Ausfahrt andockt und seinen Lotsen abholt. Habe gegen Mitternacht den Jörn eingehakt, bei Süd 2 / Kurs Nord die Fock nach Luv ausgebaumt und den Bullen angebracht und mich schlafen gelegt. Der Garmin ist auf Kurs Kihnu programmiert, mit Alarm bei Kursabweichung größer ¼ Meile (was nicht vorkommt – die WSA ist mit dem neuen Hebelarm wieder genauso zuverlässig wie vorher, wenn auch etwas steuerbordlastig, aber das lässt sich kompensieren); der Wecker klingelt jede volle Stunde und ich mache einen kurzen, verschlafenen Rundumblick und ein imaginäres Kreuz auf der Seekarte. Ich schlafe nicht „richtig“, liege bewusst in der Luvkoje um eine eventuelle Zunahme des Windes sofort zu bemerken (im Zweifel einen halben Meter tiefer in Lee) und kann durch das Oberlicht ins Segel blinzeln (Vollmond). Trotzdem total erholsam, um fünf bin ich wach und ausgeruht. Hole zunächst die Petroleumlampe ein, die ich nachts am Gennakerfall setze, halse, mache mir einen Kaffee, setze einen halben Liter Milch auf und sitze kurz darauf mit einer Schüssel Porridge mit Goldsaft-Sirup und Mirabellenmarmelade in den frühen Sonnenstrahlen irgendwo mitten in der Rigaer Bucht. Warmes Wasser hier, kein Land, kein Schiff, nur eine Möwe die träge meine Segel umkreist. Dazu mal wieder die „Ultimate Collection“ CD von Lena in voller Lautstärke – eine geniale Mischung aus Johnny Cash, Leonard Cohen, Bill Withers und Eric Clapton, aber auch U2, The Clash, Michael Jackson und ganz viel Feist – der wohl wichtigsten musikalischen Neuentdeckung dieser Tour.

Nach dem Meerwasser-Abwasch sind mir dreieinhalb Knoten zu langsam; unter der stehenden Fock und zu „Fresh Feeling“ von den Eels ziehe ich meinen schneeweißen, 30 Quadratmeter großen Gennaker mit Tadorna-Logo und lege gute 2 Knoten zu – neue ETA Kihnu 15.00 Uhr – Halbzeit. Zwischendurch singe ich laut mit, stehe freihändig gegen das Vorstag gelehnt am Bug oder hänge mich am Luvwant übers Wasser und schaue auf Tadornas durchs Wasser rauschende, mattglänzend lackierte Außenhaut, von der ich nach dem vielen Schleifen und Lackieren im Frühjahr so ziemlich jeden Zentimeter, jeden Kratzer und jede dunkle Stelle kenne. Am Heck knarzen die Seilzüge der selbstgebauten WSA leise vor sich hin, die Pinne bewegt sich wie von Geisterhand langsam pendelnd von links nach rechts, und das Servoruder hinterlässt einen weißen Schaumstreifen im Kielwasser, in dem 50 Meter achteraus die kleine Tadorna-Ente über die Wellen hüpft. Langeweile? Ich könnte (werde!) stundenlang so weitermachen. Manchmal schreie ich einfach laut raus. Stört hier keinen, macht total Spaß und tut einfach gut – das tief in mir sitzende Glücksgefühl muss irgendeinen Auslass finden, sonst platze ich ;-) Habe mich selten so befreit gefühlt – zuletzt vielleicht vor fünf, sechs Jahren in Beirut, als ich mit meiner gelben Lucy (68er VW Käfer) bei offenem Fenster, mit 400 Watt Subwoover-Bass und genauso laut dröhnendem, luftgekühltem Boxer-Motorengeräusch von hinten mit 140 Sachen durch Hizbollah-Gebiet quer durch den Südlibanon in Richtung israelische Grenze gefahren bin, auf der sich windenden Küstenstraße hoch überm Mittelmeer…

Lege mich noch mal schlafen, dann ein spätes zweites Frühstück: frischer Ziegenkäse und Schinken vom Rigaer Großmarkt auf dick geschnittenen Schwarzbrotscheiben. Jörn – diesmal nicht Heinrich, sondern der Vater von Tine, meiner Traumfrau, seineszeichens vielfacher Marathonläufer und einstmals selbst Folkebootsegler – hat mir über Mama mitteilen lassen, das sei das wichtigste: Immer genug Schwarzbrot dabei haben. Dem kann ich voll zustimmen; ergänzend vielleicht noch: frisches Grünzeug! Radieschen, Staudensellerie, Karotten, Strauchtomaten, Gurken etc. sind mir auf See total wichtig.

Langeweile? Ich habe doch Euch ;-) ! Hole meinen Laptop raus, schreibe die Berichte zu Ruhnu und Riga und mache Flaschenpost No. 4 bis 6 fertig. „Helga“ geht um 9 irgenwo mitten in der Rigaer Bucht auf Reisen; „Birgit“ schmeisse ich exakt auf der Grenze Lettland – Estland in hohem Bogen über Bord; Tissi und Valentin hebe ich mir für morgen auf. Das mit der Flaschenpost ist noch nicht so richtig ins Laufen gekommen – aber ich bin zuversichtlich dass sich das mit dem ersten Artikel in der Yacht – so ich diesen denn endlich schreibe – ändern wird. Auf jeden Fall fahre ich zur Zeit mit fast 100 leeren Flens-Flaschen in der Backskiste über die Ostsee ;-) Die Reserve ist auf ganze 5 Flaschen zusammengeschrumpft – zwei Monate lang ein Après-Sail, liebe Gäste und diverse After-Parties an Bord hinterlassen Spuren.

Etwas trist wird mir erst gegen 14 Uhr – ich stehe 10 Meilen vor Kihnu in totaler Flaute, kann die Insel schon sehen, aber komme keinen Meter mehr voran – das berühmt-berüchtigte Mittagsloch. Kihnu will ich mir aber ansehen, also egal – Segel runter, Motor an, zwei Stunden Dröhnung… um kurz vor fünf mache ich an einem neuen Schwimmsteg mit Heckbojen fest und werde mir jetzt erstmal ein Fahrrad mieten…

78 sm