Ramos Generales – El Almacen (General Store) steht auf dem leeren Bierglas auf meinem Tisch; daneben liegt die VHF-Funke, empfangsbereit auf Kanal 75, call sign DLZA-dinghy. Sogar mein Handy hat wieder Empfang, und vor mir steht mein altes Macbook, das Tadorna und mich mich schon seit zwei Sommern rund Ostsee begleitet. Inzwischen wundere ich mich über gar nichts mehr – auch nicht darüber, dass die Elektronik in diesem weißen Stück Kunststoff südpazifische Salzwasserduschen und Stürze quer über die Schlingerback des Walross übersteht – ich nehme es einfach dankbar zur Kenntnis. Direkt neben mir liegt eine umgekippte, bunt bemalte Kaffeetasse aus brüchigem Porzellan scheinbar zufällig und wie vergessen in einem Haufen gerösteter Kaffeebohnen.
Durch das Fenster dahinter starren ein paar regenjackenverhüllte Kreuzfahrer-Touristen, zeigen auf die alte Kaffeemühle und die langen Regale hinter mir, in denen rostige Waschmittel-Blechdosen, angelaufene Petroleumlampen und dicke Abrechnungsbücher im spakigen Lederumschlag ihr Dasein fristen. Draußen kurze Beratung, dann tritt die Gruppe als geschlossene Formation durch die hölzerne Doppel-Schwingtür, teure Fotoapparate im Anschlag und tropfendes Nass verbreitend, um etwas zu laut in allen Sprachen dieser Welt ihre eifernde Begeisterung kundzutun. Zum Glück sind die kleinen, quadratischen Holztische, unter deren zerkratzten Glasplatten rostige Küchenutensilien verstreut liegen, fast restlos belegt; es kehrt schnell wieder Ruhe ein. Die abziehenden Rucksäcke machen den Blick frei auf die lange, hölzerne Theke, auf der sich frische Croissants, Baguettes und Baiser-Pinguine neben der massiven, stählernen Kasse türmen. Am kupfernen Zapfhahn steht Manuél und zapft zufrieden ein Cap Horn-Bier, während die kleine Dralle mit dem schiefsitzenden Baseballcap an der Espressomaschine werkelt und zwei weitere Cafe con leche zubereitet.
Ushuaia / Tierra del Fuego – vor einer Woche haben wir Feuerland und die südlichste Stadt der Welt erreicht; der Südpazifik, die „Roaring Fourties“ und „Screaming Fifties“ liegen hinter uns – und natürlich Kap Hoorn. Am frühen Morgen des 16. Februar löst sich die markante Silhouette der Isla de Hornos aus dem Dunst der verhangenen Küste; kurz vor zehn motoren wir bei strahlend blauem Himmel auf exakt 56°00’ Süd im Abstand von nur einer Meile in T-Shirts und kurzen Hosen an dem berühmt-berüchtigten Felsen vorbei: Flaute. Champagner an Deck, Delfine am Bug, ein Kreuzfahrer am Horizont und einige Charteryachten, die ihre Gäste am kleinen Anleger unterhalb des südlichsten Leuchtturms Südamerikas absetzen, damit sie sich dort ihren obligatorischen Stempel abholen können. Ich liege auf dem warmen Teakdeck, fühle die ungewohnte Vibration des Motors im Rücken; in die leichten Dieselabgase hat sich unverkennbar der Geruch von Land gemischt. Und auf meinen trocknenden Lederstiefeln kommt langsam eine dreißig Tage dicke Salzkruste zum Vorschein. Verkehrte Welt – das soll Kap Hoorn sein?
Mein Blick fällt auf die zerissenen Bahnen des von einer Reileine zusammengehaltenen Groß, über dem das schwere, orangene Trysegel flappt; auf Höhe der Saling ist es fast durchgescheuert. Die ausgefransten Enden der an die zusammengerollte Sturmfock angeschlagenen, gerissenen Fockschoten erzählen ihre eigene Geschichte. Und meine an der Steuerbordreling zum Trocknen aufgehängten Klamotten erinnern an die geflutete Crewlogis, schwimmende Bodenbretter und Kristin, die mit aufkommender Panik im Blick und Pütz in der Hand versucht, das schnell vollaufende Vorschiff zu lenzen. Ja, wir haben „unser“ Kap Hoorn, unsere Feuertaufe gehabt – wenn auch schon vor acht Tagen und rund 1500 Meilen westlich von hier. Aber dazu später.
Ich bin seit Neuseeland kaum zum Schreiben gekommen: wenn, dann waren es ein paar unleserliche, mit aufgeweichten, eiskalten Fingern in mein kleines Notizbuch geklierte Gedankensplitter, gelegentliche Logbucheinträge, astronomische Positionsberechnungen oder Kreuze und Uhrzeiten im großen Pazifik-Übersegler, aber sicher keine uploadfähigen Blogbeiträge. Zu Anfang war alles zu neu, zu aufregend um es gleich aufzuschreiben; bis sich die vielen Eindrücke etwas gesetzt hatten und eine gewisse Routine in das Bordleben eingekehrt war, hatten sich die eigenen Prioritäten ob der Anstrengung des ganz normalen Alltags auf See deutlich verschoben, war der Fokus auf das Hier und Jetzt gerichtet: Wache gehen, Essen, Schlafen – viel mehr gab der eigene Energiehaushalt nicht her. Die ursprünglich angedachte Live-Berichterstattung von Bord war aufgrund der eingeschränkten Bandbreite unserer Kurzwellenanlage eh nicht möglich. Als lang überfälliges Update zunächst also erst einmal die nackten Zahlen und Fakten der Seereise NZ–W4–CH–> Leg 25: Southern Ocean, Auckland – Ushuaia:
- Dauer (unter Berücksichtigung der Datumsgrenze): 33 Seereisentage. Am 17. Januar um 15 Uhr Ablegen vom Zollpier in Auckland, Neuseeland; am 17. Februar um 23 Uhr fällt der Anker in der Bucht von Ushuaia.
- Distanz: 5500 Seemeilen. Durchschnittsetmal rund 165 Meilen, Durchschnittsgeschwindigkeit 7 Knoten. Interessanter sind wohl die Maximalwerte: größtes geloggtes Etmal 216 Meilen, höchste erreichte Geschwindigkeit 24,7 Knoten, höchste gemessene Windgeschwindigkeit 79 (!) Knoten, höchste Wellen (geschätzt) um 12 Meter.
- Crew: Zwei Aktive: Sven, Wachführer der Steuerbordwache, und Jan, unser jüngstes Crewmitglied – er feiert unterwegs seinen 20. Geburtstag. Zwei Alte Herren, Egils und der Schiffer. Zwei Außerordentliche Mitglieder: Steuermann Dieter und ich. Und 4 Gäste: Kristin, die das Walross seit Frühjahr 2009 in Auckland bewohnt und behütet hat, Nous, unser Proviantmeister, Rainer und Hans, der sich mit seinen 72 Jahren und seinem, wie er sagt, letzten „richtigen“ Blauwassertörn endlich den Kindheitstraum vom Kap Hoorn erfüllt hat.
- Besondere Vorkommnisse: Erster Sturm am Morgen des 1. Februar, Böen bis 65 Knoten: Fockschot bricht, Wassereinbruch via Ankerkasten, rund 1000 Liter in Segellast und Crewlogis. Zweiter, schnell aufziehender Sturm am 8./9. Februar, beim Bergen des Großsegels reißen Bahnen und Nähte im Achterliek oberhalb des 3. Reffs. Kap Hoorn am 16. Februar. Tags darauf Ausfall der Hauptmaschine direkt vor der argentinischen Küste, Aufkreuzen des Beagle-Kanals bis Ushuaia und ein perfektes Ankermaneuver unter Segeln – geschafft.
Dieses Steno und der GPS-Track erst einmal als Update, damit auch hier auf www.tadorna.de alles wieder seine Ordnung hat. Denn auch auf dem Walross ist nach einigen arbeitsamen Tagen inzwischen wieder Ruhe eingekehrt: Die Segel sind repariert und angeschlagen, die Polster getrocknet, Spak und Schimmel an Außenhaut und Decke und in Bilge und Schapps wurde beseitigt und sieben große Müllsäcke Wäsche gewaschen – nur der zerlegte Motorblock wartet noch auf Ersatzteile aus Deutschland und die Rückkehr von Patricio, unserem Mechaniker. Und: Wir haben geduscht ;-) !
„Todo bien?“ Manuél klopft mir auf die Schulter und lässt quasi im Vorbeigehen ein frisches Bier auf dem leinenen Untersetzer auf meinem Tisch stehen; ich winke ihn zurück und bestelle noch ein Panini mit rohem Schinken und Queso de cabra. Nachher werde ich ins Dublin gehen, um mit den anderen Abschied von Paul und Mel und ihrer Rebellion, einer umgebauten Albin Vega, zu nehmen; und um Klaas, den Kapitän der EUROPA, zu treffen – aber das ist eine andere Geschichte. Und keine Sorge – ausführlichere Berichten werden folgen!
Bastian