Sonntag, acht Uhr abends.
Eigentlich wollte ich vor gut vier Stunden los. Nachdem es gestern aus West, also genau von vorne geweht hat, hat der Wind über Nacht wieder auf Nordost zurückgedreht, allerdings auch ordentlich zugelegt. Bin gegen sechs Uhr morgens, fest in meinen dicken Schlafsack eingekuschelt, fast aus der Koje gerollt – Tadorna liegt jetzt quer zum Wind und holt selbst im geschützten Innenhafen von Christiansø ordentlich über. Bei Sprühregen und erstem fahlen Morgengrauen in Unterhose an Deck, eine weitere Leine nach Luv ausgebracht, meine Tadorna-Flagge, die noch am Gennakerfall weht, eingeholt, und mich in Lee wieder schlafengelegt. Alles gut. Es gibt nichts Schöneres als bei richtig Wind und Wetter geschützt im Hafen zu liegen, den Regen aufs Deck prasseln zu hören, dem Wind, der durch die Takelage pfeift, zuzuhören, und obwohl man eigentlich gar nicht müde ist langsam wegzudösen, in einen Morgen hinein der vor lauter Grau eigentlich gar keiner ist, in dem Wissen dass man alle Zeit der Welt hat und einfach weiterschlafen kann…
Gegen elf scheint die Sonne, der Wind hat nachgelassen, und ich mache mir ein dickes Müsli mit Ylette (dänischer Sauermilch) und Kaffee und schaue in die Karten. Nordost – wie schon die ganzen letzten zwei Wochen. Wahnsinn. Ich schicke Magnus und Isa, die ich vor gut drei Wochen in Hanko getroffen habe, eine kurze Email, dass ich sie nicht mehr wie geplant in Südschweden treffen werde. Vielleicht nächstes Jahr – ich würde die beiden gerne wiedersehen. Wir haben in Hanko zusammen mit Michael und seiner Williwaw, einer Rival 34, mit der er einhand aus England kommend unterwegs ist, den Sturm abgewartet, zusammen gekocht und einen wirklich urig-netten Abend an Bord ihrer Roede Orm, einem soliden, zweimastigen Spitzgatter, verbracht. Aber jetzt ist nicht die Zeit. Ich will nächstes Wochenende in Schleimünde sein, in der Hoffnung dass Papa da auf mich wartet. Das war mein Geburtstagsgeschenk an ihn: Den letzten Schlag von Schleimünde nach Schleswig mit neun Gastlandsflaggen unter der Steuerbordsaling als Vater-Sohn-Gespann segeln, um dann mit Tadorna neben Tadaima festzumachen…
Außerdem habe ich gerade Nachricht von Yvonne und Bartek, den Vorbesitzern von Tadorna: Sie sind auf dem Weg durch den Nordostseekanal, zurück von ihrem Törn zu den Shetlands und nach Irland! Wir verabreden uns per SMS für ein Wiedersehen auf Fehmarn, Mittwoch, Tadorna Seite an Seite mit Aage, ihrem 1912 gebauten Colin Archer. Also los – ich werde noch einen langen Schlag machen, mich von dem Nordost über Nacht bis nach Gedser schieben lassen – dann bin ich fast schon zu hause. Der Deutsche Wetterdienst sagt 5 bis 6 Beaufort voraus – viel, aber nicht zu viel, auch wenn es heute Nacht deutlich mehr war und die See immer noch an die eineinhalb Meter reicht. Ich mache mich an den Abwasch, verstaue alles an seinen schlingerfesten Plätzen, sortiere die Seekarten in ihre Hüllen, schmiere dicke Butterbrote, koche ein Kilo Kartoffeln (es gibt auf See nichts besseres als kalte, leicht gesalzene Pellkartoffeln bar auf die Hand!), packe Laptop und Kamera in ihre wasser- und stoßfesten Hartschalenkoffer, kontrolliere Batteriestand, Positionslichter und UKW (geht mal wieder nicht – aber ich habe ja noch die Handfunke) – kurz, mache Tadorna seeklar für einen langen Ritt. Nach Gedser sind es gut 120 Meilen, sprich 20 bis 24 Stunden – ein paar mehr wegen der großen Verkehrstrennungsgebieten vielleicht. Soll ich bei dieser Welle raumschots nur die Fock setzen? Oder gerefftes Groß und Sturmfock? Ich entscheide mich für letzteres – Tadorna liegt dann besser und ist manövrierfähiger. Ich schlage die Sturmfock über der zusammengerollten und an Deck festgezurrten Fock an und binde das 2. Reff ein – im Hafen macht sich das einfacher als in der rollenden See da draußen.
Dann kommt Jon vorbei, der Hafenmeister. „Wart mal noch ne Stunde“, sagt er. „Jo, viel Wind draußen, aber soll ja weniger werden…“ sag ich. Er guckt nur nach oben, guckt mich an – „Wer sagt das?“. Ich zeige auf die von ihm ausgehängten Wetterkarten vor seinem Büro. „Hm, ach die… Wart mal noch ne Stunde. Der Kro macht gleich auf, trink noch ein Bier mit uns…“. Ich wollte eh noch zu Helle und mich verabschieden. Sie wohnt seit 1947 auf der Insel, in einer neun Quadratmeter kleinen Hütte. Eine verrückte kleine liebenswerte Person. Sie malt, druckt in ihrem Schuppen, durch dessen Dach es durchregnet, Lithografien die ihre Mutter Anfang des letzten Jahrhunderts in Kupferplatten geritzt hat, macht aus Kupferresten Emaille-Schmuck auf einem kleinen Bunsenbrenner, sammelt, trocknet, mahlt und mischt Algen zu einer eigenen Gewürzmischung, zeigt mir wie man frischen Dorsch, den sie vom Fischer geschenkt bekommen hat, in Rhabarberblätter wickeln und in einer Plastikfolie in der Mikrowelle dünsten kann, und hat mich jetzt schon zweimal zum Abendessen eingeladen. Und all das nur, weil ihr gefallen hat wie ich mir Zeit für ein besonderes Foto lasse… Und ich ihr geholfen habe eine schwere Rolle Dachpappe vom Inselversorger zu ihrem Schuppen hochzuschleppen. Gestern habe ich sie zum Konzert eingeladen – Lasse und Mathilde kamen auf die Insel und haben dänische Volkslieder gesungen, Lasse mit Gitarre, Mathilde mit einer nicht immer ganz rund klingenden Geige im Anschlag. Fast die ganze Inselgemeinschaft war im „Monen“, dem Versammlungshaus der Insel, zusammengekommen, bestimmt 40 Leute – für hier ist das viel. Na, auf jeden Fall gehe ich zu Helle um Tschüss zu sagen, und sie drückt mir ohne viele Worte eine dicke Plastiktüte mit Brot und Käse, verschiedenem Gemüse, selbstgemachtem Honig und anderen Leckereien, dazu eine Aluform mit noch warmer Paella, in die Hand… Und eine Tüte mit einem Brief, den ich noch nicht aufgemacht habe. Dann schiebt sie mich aus ihrer Hütte, guckt auch noch mal in den Himmel und sagt nur „Ich glaube wir sehen uns morgen – aber ich bin nicht Deine Mutter…“.
In der Tat hat der Wind eher zugenommen, und ich sehe aus dem Augenwinkel recht bedrohlich wirkende Brecher über die Flachs vor der nördlichen Hafeneinfahrt rollen… Ich gehe erstmal zum Kro, trinke ein Bier und einen Christiansø-Schlehenschnaps (der allerdings in Kopenhagen gebrannt wird – aber was macht das schon…) und schnacke eine Weile mit dem Vogelkundler, der mir noch ein wenig über die Tadorna-Ente erzählt, die meinem Boot vor 50 Jahren seinen Namen gegeben hat. Seine hübsche Praktikantin (ich hätte sie nach ihrem Namen fragen sollen…) lädt mich für morgen früh zum Vogelfangen und Beringen ein – aber da will ich ja schon auf halbem Weg nach Gedser sein, denke ich noch. Und dann reisst mir der Wind fast die Krotür aus der Hand. Ich renne geduckt über die Drahtseilbrücke, die die beiden Inselhälften Christiansø und Frederiksø miteinander verbindet, und spüre Sprühregen wie Stecknadeln auf meiner Haut. Aber das ist kein Regen – das ist die Gischt der sich an den Inselklippen brechenden Wellen, die bis an die hohen Mauern der alten Festung schlägt, dort zerstäubt und quer über den Hafen gefegt wird…
Soviel zum Wetterbericht. Und zu Inselbewohnern, die den Wind förmlich riechen können. „Wart mal noch ne Stunde…“ – das war vor einer Stunde, als die Sonne noch schien und der Wind stark, aber sicher noch kein Sturm war.
Nun gut. Morgen früh werde ich Vögel fangen…