Nach Kaliningrad, der Kurischen Nehrung und den Inseln Kihnu und Naissar ist Narva ein weiteres Highlight dieses Törns. Die rund 130 Meilen vergehen bei südöstlichen Winden zwischen zwei und drei Windstärken wie im Fluge – wir legen Mittwoch Mittag in Tallin ab und laufen Donnerstag Abend in die Mündung der Narva ein. Unterwegs haben wir Flaschenpost Nummer 9 bis 12 ausgesetzt – ein Sport der mir immer mehr Spaß macht – und uns dann nahe entlang der russischen Grenze bis in den östlichsten Zipfel Europas vorgetastet.
Die Narva ist der Grenzfluss zwischen Russland und Estland, in der Mitte mit kleinen roten Tonnen markiert: Auf der linken Seite fischen die Russen, auf der rechten die Esten in hunderten kleinen Alu- und Gummibooten, streng beobachtet von den Flussverlauf säumenden Wachtürmen auf beiden Seiten.
Die meisten der wenigen Yachten, die überhaupt bis hierherkommen, bleiben in Narva-Joensu, einem vorgelagerten Sommerressort; hier wurde mit EU-Geldern ein neuer ‚Hafen’ gebaut. Als wir dort ankommen entpuppt sich dieser allerdings lediglich als kleiner Schwimmsteg mit sechs Hecktonnen, der von den Locals als Badeplattform genutzt wird. Wir wollen nicht stören, motoren langsam den Fluss entlang und treffen nach knapp zwei Stunden auf die estnische Border Guard; zwei junge Grenzer, die sich sichtlich über die Abwechslung freuen, rufen uns freundlich längsseits, notieren Schiffsnamen und Heimathafen, warnen eindringlich die ‚rote Linie’ nicht zu überqueren und winken uns zum Abschied freundlich hinterher. Kurz danach passieren wir in nur wenigen Metern Abstand das russische Grenzschiff; wir starren uns zunächst gegenseitig durch unsere Ferngläser an, aber auch auf der russischen Seite kann sich der Grenzer beim Anblick meiner kleinen Tadorna ein Grinsen nicht verkneifen – und zurückgewunken wird dann auch.
Kurz vor neun erreichen wir das eigentliche Narva, wo wir an einem verrosteten Schwimmsteg mit dickem Eisentor festmachen. Nach kurzem Hin- und Hergerufe kommt ein alter Hafenmeister, schließt auf, wir laufen eine knarzend schwingende Landungsbrücke hinauf – und stehen im RoRo Art Club. Zwischen aus verschiedensten Holzresten zusammengezimmerten Hütten brennt in einem rostigen Ölfass ein Holzfeuer, in das zwei gewichtige Security-Guards eifrig Grillanzünder spritzen; rechts vom Eingang thront eine mit Kunstrasen belegte Bühne, dahinter in einem dunklen Raum ein abenteuerlich verlötetes Mischpult mit zwei recht überdimensioniert wirkenden BigBand-Boxen, aus denen lauter Reggae dröhnt. Darüber hängt ein aus Stahldraht, Sperrholz, Plastikfolien und Aluminiumblechen zusammengeschustertes Flugzeug, das aussieht als ob es gerade auf der Dachschräge notgelandet wäre. An der Bar gibt es München-Bier – eine estnische Marke! – und natürlich wieder Jägermeister, dazu RoRo-Kartoffeln und perfekt gegrillte Schaschlik-Spieße.
Am nächsten Abend zeigen uns Roman und seine Freunde den über dem alten Hafengebäude liegenden JamSession-Raum – ein verrücktes Durcheinander von Bongos, Gitarren, einem Schlagzeug, diversen Blasinstrumenten und eigentlich allem, womit man Musik machen kann, in einem Wirrwarr von – sagen wir mal, Utensilien, das kreative Durcheinander lässt sich kaum beschreiben. Ich hole meine alte Klampfe vom Boot, Roman hat eine schöne Zwölfsaitige, und zu dritt spielen wir bis spät in die Nacht eine Mischung aus international Rock, estnischen Balladen und improvisierten Akkordfolgen, bis Roman – es muss gegen zwei Uhr morgens sein – aufsteht und sagt „Come on, we’ll show you some special places here in Narva!“.
Hinter der Herrmansfeste halten wir an einer Schlucht, unter uns brodeln die Strudel der Narva, direkt gegenüber liegt die russische Burg Ivangorod im Dunkel, von hier aus gerade mal 150 Meter entfernt. Die estnische Flagge weht auf der einen, die russische auf der anderen Seite: „We can start international conflict right here – just by shouting to the Russians!“, lacht Roman. Er hat leicht reden, er hat zwei Pässe und kann ohne Visum über die Brücke zwischen Russland und Estland pendeln; ich frage mit Blick auf seinen Wagen lieber nicht womit er sein Geld verdient – mit dem RoRo Art Club sicher nicht. Wir fahren weiter flussaufwärts zum Sperrwerk, durch dessen Bau in den 80er Jahren ganze Dörfer unter Wasser gesetzt wurden, zum größten Kraftwerk der Region –Estland exportiert Strom ins benachbarte Russland – und zum „Electric Spa“, einem See, der in wenigen Metern Höhe von einer Hochspannungsleitung gequert wird – angeblich knistert es beim Baden. Vor den fünf Schornsteinen ragt eine riesige, metallene Statue, Mischung aus Flamme und Mensch, in den Himmel – „Narva’s Superman“. Schließlich schauen wir noch die dunkel und verlassen daliegenden Hallen der riesigen Textilfabrik Krenholm an. Mit zuletzt rund 3000 Beschäftigten war die Fabrik schon zu frühen Sovietzeiten der wichtigste Arbeitgeber hier; erst vor Wenigen Monaten wurde der Betrieb geschlossen. Die Auswirkungen für Narva und das Umland müssen verheerend sein.
Im frühen Morgengrauen kommen wir zurück zum RoRo-Club und zu Tadorna, schlafen aus, trinken später noch ein Bier mit Roman und seinen Freunden und machen verlassen Narva dann unter lautem Rufen, Hupen und Abschiedsgewinke. Machmal ärgere ich mich, dass ich so wenig Törnplanung gemacht habe; hätte ich gewusst dass man von Narva aus nicht direkt weiter entlang der russischen Küste nach St. Petersburg segeln darf, sondern zunächst bis nach Gogland zurück in internationale Gewässer muss, wir wären sicher nicht hierher gekommen. Aber heute ist es gut so.